Populärwissenschaft – eine Gewissensfrage?
Populärvetenskap – en samvetsfråga? Eine erweiterte Übersetzung von Frau Professorin Inga Hägg
11. April 2010 / Überarbeitet am: 24. April 2010 - 00:30 Uhr
Nachtrag 06. September 2011: Aufgrund der zahlreichen Anfragen nach
einer druckbaren Version, besonders von Studenten der Archäologie, biete ich diesen Artikel nun auch als PDF zum Herunterladen
an. Der Downloadlink zu der PDF-Datei befindet sich rechts im Kasten. Das Verteilen dieser Datei ist erlaubt.
Vorwort Als die schwedische Uppsala University im Jahr 2008 in einer Pressemitteilung über
neue Forschungsergebnisse zum Thema wikingerzeitliche Trachten berichtete, war ich über diese dort veröffentliche Tracht sehr
verwundert, da in keines der vorherigen Veröffentlichungen jemals Trachten mit zum Beispiel „brustbetonenden Schalenfibel“
beschrieben worden sind. Irgendwie passte diese „neue Tracht“ nicht in die Zeit und Region und ich ging anfangs von
einem „Ausreißer“ aus. Also eine Tracht, die nicht Traditionell getragen wurde sondern nur von einer einzelnen Frau.
Aber in den weiteren Veröffentlichungen in den Medien sowie von der Uppsala University wurde diese Tracht zu der allgemeinen
Trachtenmode zugeschrieben. Und die Medien fingen an, diese Pressemitteilung populistisch auszuschlachten. Und was taten
da die Archäologen? Ich vermisste aus diesem Wissenschaftsbereich kritische Stimmen.
Stattdessen wurde diese „neue Tracht“ sogar von einigen Archäologen angenommen. Und auch hier, ohne diese Forschungsergebnisse
vorher ernsthaft zu hinterfragen. Erst 2009 fand ich auf der neuen Internetseite von Frau Professorin Inga Hägg endlich eine
kritische Stimme aus der Fachwelt, die die Problematik von Populismus und die Glaubwürdigkeit der archäologischen Wissenschaft
aufgreift und mit Fakten unterlegt.
Da ich der Meinung bin, dass auch im deutschsprachigen Raum dieser Artikel gelesen werden sollte, Frau Professorin Inga Hägg
ist eine anerkannte Expertin zum Thema Trachtenmode der älteren und jüngeren Eisenzeit, wollte ich diesen Artikel
übersetzen aber zum Glück ließ sich das Professorin Inga Hägg nicht nehmen und daher kann ich heute diesen von ihr übersetzten
Artikel hier im Haithabu-Tagebuch veröffentlichen.
Dafür herzlich vielen Dank! Tusen takk!
Zusätzlich noch eine Information - Voraussichtlich 2011 wird das neue Buch von Frau Professorin Inga Hägg mit
dem Titel: „Textil und Tracht in Haithabu“ veröffentlicht.
Endlich wird das Buch mit dem Titel: Textil und Tracht in Haithabu in Dezember 2015 veröffentlicht.
Einen Artikel mit Aufnahmen von dieser kritisierten Tracht vom 27.02.2008 findet man auf
Wissenschaft.de mit dem Titel: Paradiesvögel des Nordens.
Populärwissenschaft eine Gewissensfrage?
Das Interesse der Öffentlichkeit für archäologische Arbeit ist groß und neuen Errungenschaften auf diesem
Gebiet wird verhältnismäßig viel Platz in den Medien, in der Populärliteratur, in Ausstellungen und anderen Zusammenhängen
bereitet. Wie zuverlässig sind dann die in dieser Weise vermittelten Ergebnisse und wie repräsentativ sind sie für die
archäologische Forschung?
Im Bereich der archäologischen Textilien lässt sich dies besonders einleuchtend durch den Vergleich vom
öffentlichen Bild der Trachtsitten mit der archäologischen Faktenlage veranschaulichen. Als Beispiel nehme ich die Tracht
der Frauen in der Wikingerzeit und besonders den Trägerrock, der lange im Fokus der Trachtdiskussion gestanden hat.
Zu diesem Gewand gehörten zwei oval-kuppelförmige Bronzefibeln, die so genannten Schalenfibeln, die aus Gräberfunden in ganz
Skandinavien bekannt sind. Mit diesen wurden zwei Trägerschlaufen von der Rückseite des Gewands mit der Vorderseite
zusammengehalten. In den Schalenfibeln wurden auch häufig Perlen- und andere Zierketten, Kleingeräte u. dgl. befestigt.
Seit den 1980er Jahren sind die von dem dänischen Graphiker Flemming Bau erarbeiteten, farbenfrohen
Darstellungen des wikingerzeitlichen Trägerrocks umfassend verbreitet worden (Bau 1981, Vgl z.B. Hvass, Jernalderen 1980,
Elsner 1997 oder Burenhult, Arkeologi i Norden 1999). Seine Rekonstruktion war stark beeinflusst von einer Reihe häufig
abgebildeter Darstellungen von Walküren und anderen Wesen in verschiedenen Gewändern, jedoch – und das ist ja hier besonders
bemerkenswert - in keinem Fall in Trägerrock mit Schalenfibeln
Baus Rekonstruktion zeigt den Trägerrock mit einer breiten Öffnung vorne von oben nach unten. Als Ergebnis
neuster Forschung über die Trachten der Wikingerzeit ist in den letzten Jahren diese Variante - jetzt mit einer Verlängerung
der Schulterträger bis zur Taille – sowohl im universitären als auch im populären Bereich vorgestellt worden, unter anderem
in der Ausstellung „Vikingatida Aros" 2008 am Universitätsmuseum in Uppsala mit Begleitschriften und Abbildungen; als Basis
dafür wird auf die Textilien aus den Gräbern von Birka, Mittelschweden hingewiesen. Diese Forschung soll gezeigt haben, dass
Frauen in der Wikingerzeit gewagter gekleidet waren als nach der Christianisierung. Dafür spricht angeblich die breite Öffnung
vorne am Trägerrock. Außerdem sollen die Frauen die Schalenfibeln auf den Brüsten platziert haben, um diese Körperteile
hervorzuheben, während Perlenketten, Anhänger, Kleingeräte und anderes über den Bauch herunterhingen. Die verlängerten
Trägerschlaufen sind in der Rekonstruktion mit Brettchenbändern geschmückt.
Für die Platzierung der Schalenfibeln wird auf deren Fundlag über der Taille („in Brusthöhe"!) in einigen der
wikingerzeitlichen Frauenbestattungen von Birka hingewiesen. In Wirklichkeit befinden sich allerdings die Schalenfibeln in
Gräbern viel häufiger oben auf dem Schlüsselbein oder (auf) der Brustmitte der Frauen, sowohl in Birka als auch sonst in
Skandinavien. Die weniger übliche Fundlage bei der Taille hat mit sekundären Verschiebungen während der Verwesung im Grab zu
tun. Einige Tote sind auch sitzend oder halbliegend bestattet worden (A.-S. Gräslund 1980) mit der Folge, dass Spangen,
Kleingeräte, Perlenketten und andere Gegenstände beim Zerfall im Grab weiter nach unten am Körper verrutschten.
Für Brettchenbänder als Schmuck der Trägerschlaufen gibt es im gesamten skandinavischen Fundmaterial keine
Bestätigung. Es wird zwar auf Agnes Geijers Beschreibung in ihrer Publikation der Birka-Textilien 1938 hingewiesen, aber nach
dieser lagen die Brettchenbänder quer über der Brust und nicht wie Schulterträger in Längsrichtung des Körpers (Vgl. Geijer
1938, Abb. 47). Die Rekonstruktion soll aber auch auf dem Trachtfund aus einem Grab im Russischen Pskov basieren. Hier fand
man allerdings die Bekleidungsstücke zusammengefaltet in einem Behälter unter dem Grabboden.
Die Vorstellung, dass es am Trägerrock eine breite Öffnung vorne gegeben haben soll, ist auch nicht
stichhaltig. In etwa 25 der weiblichen Bestattungen von Birka waren große Teile von der Vorderseite durch Grünspan und Rost
der Schalenfibeln erhalten. Aus einem Grab (Bj. 597) kommt beispielsweise ein querüber insgesamt 22 cm breites Stück von der
Vorderseite des Trägerrocks, davon 12-13 cm zwischen, sonst unter den Schalenfibeln. Befunde wie diese sprechen eindeutig
gegen eine Öffnung vorne. Aus Haithabu kommt ein 30 x 23cm großes, leicht keilförmig geschnittenes Stück von Körperseite und
Rücken eines Trägerrocks mit vertikalen Abnähern und Spuren von Nähten an den Längsseiten, was auf einen rundum geschlossenen
Gewandtyp deutet. Dieser Fund sowie die feinstratigrafische Lage der Gewebereste in einer Reihe anderer skandinavischen Funde
zeigen außerdem, dass das vorne mit den Schalenfibeln festgehaltene Teil tatsächlich die Vorderseite des Trägerrockes war und
keine Schürze, wie in den meisten Rekonstruktionen dargestellt.
Die neuen Resultate für den Trägerrock die jetzt vorgelegt werden stimmen also keineswegs mit den
archäologischen Funden und Befunden überein. Dasselbe trifft auch für andere Teile der Frauentracht zu:
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Völlig in Widerspruch mit der Schichtenfolge in den Präparaten aus den Gräbern von Birka und in anderen
skandinavischen Gräbern, findet sich bei der neuen Rekonstruktion das Leinwandhemd über der brettchenbandverzierten Tunika. |
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Obwohl brettchengewebte Zierbänder in der Körperkleidung der Birkafrauen – angeblich die Grundlage für die
Rekonstruktion - fast ausnahmslos aus Silber gefertigt sind, bestehen sie in der Trachtrekonstruktion aus Gold. |
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Obwohl in Birka Reste von einer Kopftracht mit festgenähten Brettchenbändern noch an Schädelfragmenten aus
Frauengräbern haften werden in der Rekonstruktion die Bänder ohne Unterlage als Diadem getragen. |
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Obwohl in keiner der Frauenbestattungen Birkas Brettchenbänder weiter unten am Körper als in Hüftenhöhe
gefunden worden sind, zeigt die neue Rekonstruktion eine Tracht mit Brettchenbandborten bei der unteren Saumkante. |
Die neue Forschung soll auch gezeigt haben, dass die Wikinger „bunt wie Weihnachtsbäume" gekleidet waren.
Gemeint ist eine Trachtverzierung aus Gold, Silber und Seide in den reichsten Gräbern von Birka. Diese saloppe
Weihnachtsbaum-Parallele lenkt den Blick von der aus kulturhistorischer Sicht wahrscheinlich bedeutungsvollsten Perspektive
der wikingerzeitlichen Tracht ab. Wie seit langem durch umfassende philologische, kunsthistorische, archäologische und andere
historische Untersuchungen klargelegt, spiegeln die exklusiven Gewänder im mittelalterlichen Europa in verschiedener Weise ein
im Grunde internationales Muster für Hof- und Beamtentracht wider, das sich während der Wikingerzeit auch in Nordeuropa
zunehmend deutlich durchsetzte. Dabei handelt es sich um fürstliche Zeremonietrachten, um Trachten für Gefolgschaftsleute und
Beamte, um königliche und kirchliche Ornate u. a. Die Kleidung hatte eine legitimierende Funktion in regionalen und
überregionalen Zusammenhängen, sie bestätigte die Zuständigkeit einer Person, diplomatische Vereinbarungen zu schließen,
Urteile zu sprechen, zu trauen, taufen, den Befehl zu führen, ein Land zu regieren usw. Trachtfunde stellen in dieser Weise
eine Art Spiegel der Gesellschaft dar, öffnen aber auch Einblicke in Kultvorstellungen, ethnische Verhältnisse und viele
andere Bereiche.
Zentrale Aspekte wie diese werden überhaupt nicht von der hier diskutierten, neuen Forschung umfasst. Und was
schwer ins Gewicht fällt: Diese Forschung berücksichtigt überhaupt nicht das in ganz Skandinavien größte und am besten
erhaltene wikingerzeitliche Trachtmaterial aus Haithabu. Trotzdem wird das Bild der wikingerzeitlichen Tracht und ihre
symbolische Bedeutung, die der Öffentlichkeit in den letzten Jahren vorgestellt worden ist, als eine Verbesserung und
Richtigstellung von älteren Auffassungen präsentiert.
Der Weg zu soliden wissenschaftlichen Kenntnissen ist wie bekannt lang, und die individuellen Leistungen
stellen in der Archäologie wie auf anderen Gebieten nur mehr oder weniger schwerwiegende Zusätze zu einer von
Forschergenerationen aufgebauten Wissensbasis dar. Ein Weiterkommen setzt solide Einsichten in das relevante Quellenmaterial,
die methodischen Voraussetzungen und in die für das Thema aktuelle Forschungslage voraus. Was diese Mindestansprüche auf
Wissenschaftlichkeit angeht, sprechen die hier vorgeführten Beispiele eine deutliche Sprache.
In der Archäologie gehören ja an und für sich widersprechende Interpretationen eines Fundbilds fast zum
wissenschaftlichen Dialog. In den Beispielen hier ist aber das Fundbild in entscheidenden Punkten klar und trotzdem ist es
nicht ausreichend berücksichtigt worden. Rekonstruktionen von Trachten genießen verhältnismäßig große Popularität und
erscheinen auch schnell in allerlei Zusammenhängen. Die einleitend gestellte Frage nach der Zuverlässigkeit der
Forschungsergebnisse, die im hier diskutierten Fall negativ beantwortet werden muss, wird dann zu einer Gewissensfrage von
prinzipieller Bedeutung. Mit geringem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit werden nicht nur Steine im Weg für konkrete
Fortschritte gelegt. Auf Sicht wird auch überhaupt die Glaubwürdigkeit der Forschung beschädigt.
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